"Die Seele geht zu Fuß."
(Arabisches Sprichtwort)

"Es kommt niemals ein Pilger nach Hause, ohne ein Vorurteil weniger und eine neue Idee mehr zu haben."
(Thomas Morus)

















































































































Am Peenestrom, am Peenestrom
Da liegt ein Wrack aus Holz und Stein
Seit fünf mal hundert gleichen Jahrn
die alte Stadt Lassan
Die Stadt liegt da auf Grund und träumt
Und kommt nie los und wird nie flott
Und möcht gern auf die Ostsee fahrn
die alte Stadt Lassan

(Wolf Biermann)






























































































































































































Brigitta, Schwedens Nationalheilige, ging im Jahr 1341 diesen Weg nach Santiago de Compostela. Sie orientierte sich an Wallfahrtsorten mit Reliquien, etwa dem Schweriner Dom mit einem "Blutstropfen Christi".

Via Baltica

Die Via Baltica bezeichnet einen der Hauptwege der Jakobspilger in Deutschland, die nach Santiago de Compostela führen. Er verläuft von der Insel Usedom nach Osnabrück. Wir sind als Agnostiker auf Wanderschaft entlang dieses alten Pilgerweges aufgebrochen. Uns ging es dabei um einen Abstand zum Alltag, um das Ausloten der eigenen physischen, emotionalen und mentalen Grenzen, um Selbstreflektion nach dem Motto "Die längste Reise ist jene zu sich selbst". Darüberhinaus sind wir gerne in der Natur unterwegs, wir können uns an Landschaften und Begegnungen erfreuen. In den vergangenen Jahren wurden die Jakobswege in Deutschland rekonstruiert, ausgeschildert und im Internet und Reiseführern dokumentiert. Man lädt sich einfach einen Track auf sein GPS und schon kann es losgehen.

Buen Camino - Einen guten Weg

Am 19. Juli 2012 reisten wir mit der Bahn bequem auf die Insel Usedom an den südöstlichsten Zipfel nach Kamminke, dem Startpunkt unserer Wanderschaft. Den ganzen Reisetag lang begleiteten uns dunkle Wolken, die sich in teils stürmischen Regengüssen entluden. Bei unserer Ankunft am Stettiner Haff am frühen Nachmittag klarte der Himmel auf und die Sonne wärmte. Zur Übernachtung bekamen wir ein Zimmer in der Jugendbegegnungsstätte Golm. Der Golm ist mit einer Höhe von 69 Metern die höchste Erhebung auf der Insel Usedom. Ein Aussichtspunkt bietet einen weiten Blick über das Haff. Auf den Feldern in der Höhe schreitet ein Storchenpaar. Zum Abendessen gehen wir in die Räucherei "Klönsnack" am kleinen Hafen. Hier sitzt man windgeschützt mit Blick aufs Meer, der frische Fisch schmeckt phantastisch und einige Windsurfer bieten sportliche Unterhaltung.

Von Kamminke nach Usedom Stadt

Am nächsten Morgen beginnt der Wanderalltag mit Morgentoilette, Rucksack packen, frühstücken, auschecken und loslaufen. Unser Wegweiser ist eine gelbe stilisierte Jacobsmuschel auf blauem Grund. Wir laufen relativ langsam, etwa 4 Kilometer pro Stunde. Jeder Wandertag wird durch ein oder zwei längere Pausen zur Rast und Erholung aufgeteilt. Am Tagesziel suchen wir nach einer Übernachtung, erfrischen uns beim Duschen und erledigen die Wäsche. Der Tag klingt aus bei einem guten Mahl und Tropfen, es folgt ein tiefer erholsamer Schlaf.

Die erste Etappe ist ca. 23 km lang. Sie führt auf einer Landstraße aus dem Ort raus, dann auf Feld- und Radwegen entlang einer alten Eisenbahnlinie über mehrere verschlafene Ansiedlungen nach Usedom Stadt. Zur Mittagspause rasten wir nicht ganz zufällig in Dargen. Wir finden im DDR-Technikmuseum die erste Möglichkeit zu einer kleinen Zwischenmahlzeit. Das Areal wirkt vernachlässigt, aber vielleicht soll das ja nur den Museumscharakter unterstreichen. Wir kommen am frühen Abend in Usedom Stadt an und genießen die Abendsonne am kleinen Hafen. In der am Stadtrand gelegene Pension Gasthof Natzke beziehen wir ein Zimmer und wir stellen erfreut fest, dass man hier die Zeitenwende geschafft hat - mal abgesehen von den fettigen Bratkartoffeln.

Von Usedom nach Pinnow

Wir verlassen Usedom Stadt auf dem "alten Kirchenweg" und kommen zu einem Gehöft mit Pferdekoppel, dass sich als Privatgelände ausweist - wir müssen zurück und den aktuell richtigen Weg finden. Der Wegweiser ist unauffällig hinter Buschwerk versteckt, es gibt auch nicht all zu viele davon und wir sind froh, den Weg auf GPS zu sehen. Als die Stadt endlich hinter uns liegt laufen wir lange auf dem wunderschönen Seeadlerdamm entlang der Peene. Biber waren hier fleißig am Werk. Von weitem kommt die Hubbrücke Karnin in Sicht. Näher kommend erkennt man das total verrostete Hub- oder Mittelteil als Fragment der alten Eisenbahnbrücke. Es ist im Wasser als Gefahrenstelle markiert. Es gibt ein Aktionsbündnis Karniner Brücke, dass sich für den Wiederaufbau einsetzt, aber aktuell werden diese Bestrebungen als unwirtschaftlich betrachtet. Wir verweilen am kleinen Hafen, den Blick gerichtet auf den Fährbetrieb und die Segler. Am Nachmittag verlassen wir die Insel Usedom. Wir überqueren die Peene auf der Zecheriner Brücke und laufen einige km auf einem asphaltierten Radweg entlang der Hauptstrasse Richtung Pinnow. Dieser Wegabschnitt ist frustrierend. Regelmäßig überholen uns Radfahrer, der Autostrom auf der Hauptstrasse fließt ununterbrochen. Nach 19 Tageskilometern übernachten wir in Pinnow im Gasthof "Zur Linde". Wir sind positiv überrascht über den gebotenen Standard, den freundlichen Service und das vorzügliche Essen.

Von Pinnow nach Lassan

Am Morgen besuchen wir noch die kleine Dorfkirche von Pinnow. Der Pfarrer begrüßt uns freundlich und gerne folgen wir seiner Einladung zur Besichtigung der alten Kirche. Aus seinen Erklärungen können wir sein Engagement für die Gegend spüren. Er kennt den Jacobsweg in der Umgegend und weist uns umsichtig auf Wegmarkierungen hin. Zum Abschluss erhalten wir einen echten Pilgerstempel in unser Tagebuch und wir dürfen uns in die diesjährige Liste der Jacobspilger unter der Nummer 115/116 eintragen. Tagesziel der dritten Etappe des Weges ist die ca. 8km entfernte Stadt Lassan. Der Weg führt bei Sonnenschein durch Wiesen, Wäldchen und Felder. Das reife Korn leuchtet in der Sonne wie Gold. Es duftet nach Klee und Kamille und bald erkennt man in der Ferne den Kirchturm von Lassan. Wenn man in freiem Gelände zu Fuß unterwegs ist, ist es sehr angenehm, auf ein markantes Ziel zuzulaufen. Es wirkt vertraut und ist vielleicht vergleichbar dem Gefühl, seine Lebensziele zu erkennen und im Auge zu behalten. Das Stadtbild von Lassan wird geprägt von zwei Hauptstrassen, die einem Schiffsrumpf gleich, vom Hafen ins Hinterland verlaufen. Dieses Bild beschreibt Wolf Biermann in seiner "Ballade von der alten Stadt Lassan". Das "Wrack" ist weitgehend restauriert. Schön anzusehen sind die alten bemalten Haustüren der niedrigen Fachwerkhäuser entlang der Hauptstrassen. Nach unserem Stadtrundgang und dem Besuch der weit sichtbaren, dunkelroten Backsteinkirche lassen wir uns in Hafennähe in einem kleinen Gartenrestaurant nieder. Die Wirtin bietet uns im Haus ein Zimmer mit Bad zur Übernachtung. Wir ahnen noch nicht, dass dies unser teuerster und unbequemster Schlafplatz der Tour sein wird.

Von Lassan nach Diedrichshagen

Nach dem Erholungstag in Lassan wollen wir 27 km nach Wrangelsburg laufen. Schon am Morgen brennt die Sonne und nach nur 5km pausieren wir kurz im Schatten der Bäume am idyllischen Pulower See. Nach dem Mittag verläuft der Weg parallel zum Peenestrom durch Wiesen und Felder Richtung Wolgast. Von weitem sind die Hafenanlagen zu sehen, auf der Peene tummeln sich zahlreiche Segelschiffe - idyllische Bilder aber auf unserem Weg im Feld brennt unbarmherzig die Sonne. Wir sind einfach dankbar für das Mineralwasser, das uns Anwohner in Hohendorf freundlich anbieten. Durch die Hitze sind wir erschöpft, deshalb fahren wir auf der Bundesstrasse etwa 5km mit dem Bus. Den letzten Teil des Wegs nach Wrangelburg laufen wir auf einer Allee im Schatten alter Laubbäume. Wir erreichen im warmen Licht der Abendsonne das Schloss inmitten eines schön angelegten Parks. Das Anwesen sucht nach einer neuen Bestimmung. Unser Plan war, im Gasthaus zu übernachten. Das Gasthaus gibt es aber nicht mehr, es wurde zur Pension umgebaut. Wir standen vor verschlossenen Türen, die Wirtin war nicht erreichbar. Uns hilft eine junge Frau aus dieser Not. Sie fährt uns uneigennützig in die nächstgelegene Pension nach Diedrichshagen.

Von Diedrichshagen nach Greifswald

Einem Spaziergang gleich laufen wir knapp 8km auf einem gepflegten Waldweg nach Greifswald Eldena. Entlang des Weges erklären Schautafeln die einheimische Flora und Fauna. Die Gestaltung erinnert an frühere Biologielehrbücher. Der Stadteil Eldena ist geprägt von der Ruine eines Zisterzienserklosters. Die rote Backsteingotik inmitten der grünen gepflegten Parkanlage bietet ein Bild der Harmonie und lädt zum Verweilen ein. Unser Weg führt weiter zum Hafen. Wir speisen vorzüglich zu Mittag. Es gibt Lachs und Salat mit Parmesanhobel und Steinpilzen in der Fischer-Hütte, einem modernen Restaurant mit Bick auf den Hafen und die alte Zugbrücke, die die Stadtteile Eldena und Wieck verbindet. Ein bißchen wehmütig ereinnern wir uns an unsere Rund-Rügen Segeltour im Augst 2011. Damals haben wir die Klappbrücke auf der Aquila von See kommend passiert. Wir buchen die Übernachtung im Maritimen Jugenddorf Wieck und verbringen den Nachmittag in den Gassen des alten Fischer-Dorfes und am Hafen. Im Jahr 2011 begann man hier mit dem Bau eines ca. 7 m hohen Hochwasser-Sperrwerkes. Das Sperrwerk in der Ryck-Mündung besteht aus einem Drehelement, das bei einem Hochwasserstand von 1,10 m ü. NN den Hafen verschließen wird. An der Baustelle sind für Wissbegierige erklärende Schautafeln aufgestellt. Durch die Bauarbeiten ist derzeit die Hafenzufahrt beengt und beeinträchtigt die Schifffahrt. Unsere Beobachtung war, dass Berufsschiffer und Segler gelassen bleiben. Die Bauarbeiten sollen 2014 abgeschlossen werden und wir denken, dass Greifwald dann um eine technische Sehenswürdigkeit reicher sein wird. Eine andere Schautafel zeigte eine Vision, den Industriehafen Ladebow auszubauen und nicht nur gewerblich sondern auch maritim-touristisch zu nutzen. Doch außer Visionen gibt es bislang nichts Handfestes dazu. Am folgenden Tag leihen wir Fahrräder aus. Entlang des Ryck führt ein schöner Radweg vom Hafen ins 8km entfernte Stadtzentrum. Die alte Hansestadt zieht uns magisch in ihren Bann. Sie wirkt jung und einladend mit zahlreichen gut besuchten Restaurants und Caffees, aber auch mit den vielen innerstädtischen Grünanlagen, den freien Plätzen und Brunnen, nicht zuletzt mit der altehrwürdigen Universität und dem Dom St. Nicolai im Kern der Altstadt. Wir steigen die 264 Stufen bis zur Aussichtsplattform des Kirchturms in ca. 60m Höhe auf und verweilen mit dem weiten Blick in die liebliche Landschaft. Der Romantiker Caspar David Friedrich war einer der bedeutesten Söhne der Stadt, er hat diese Landschaft in Bildern verewigt. Nach Stadt und Dom besuchen wir noch den liebevoll angelegten Botanischen Garten. Im Palmenhaus leben Zebrafinken und mit etwas Geduld können wir die Winzlinge auch sehen.

Greifswald - Stralsund

Die Via Baltica verläuft weiter auf einem Weg im Hinterland nach Grimmen. Wir entscheiden uns für einen Abstecher nach Stralsund weil uns auch diese alte Hansestadt auf unserer Rund-Rügen Tour in ihren Bann gezogen hat. Wir laufen den Radweg in die Stadt zum Dom und erhalten hier den Pilgerstempel in unser Tagebuch. Dann fahren wir mit dem Zug nach Stralsund, buchen eine Übernachtung im Younior-Hotel und lassen uns beim Bummeln durch die Gassen zum Hafen wieder vom Flair einfangen. Diese Stadt lebt. Überall gibt es einladende Gastronomie unter freiem Himmel und viele Ausblicke auf Schiffe und Meer. Wir sind den Turm der St. Marienkirche hinaufgestiegen und konnten weit nach Rügen und Hiddensee schauen. In St. Nicolai am Alten Markt gefiel uns besonders eine künstlerisch blau getönte Fensterfront. Am meisten beeindruckt waren wir von der Kultur- und Pilgerkirche St. Jacobi. Durch Kriegsschäden und Plünderungen fast völlig zerstört wird sie seit 60 Jahren nicht mehr kirchlich genutzt aber es begann der Wiederaufbau. Die Restaurierung kostet Zeit und Geld und so bietet St. Jacobi seit über zehn Jahren Raum für vielfältige Kulturveranstaltungen: sei es für Konzerte, Theateraufführungen, Theaterproben, Messen oder Ausstellungen. Wir hatten das Glück, die Ausstellung "Die Rote Couch" zu erleben. Dabei handelt es sich um ein Projekt des Fotografen Horst Wackerbarth. Er hat Anfang des neuen Jahrtausends Prominente und unbekannte Menschen unterschiedlichster Religionen, Ethnien und sozialer Schichten an exponierten Orten der Erde auf einer roten Chouch fotografiert und interviewt. Er stellte Fragen zum Beispiel nach dem interessantesten Erlebnis ihres Lebens, nach Glück und Unglück, nach schlimmen Erfahrungen oder großen Fehlern, aber auch nach ihrem größten Wunsch, nach ihrer Arbeit und nach dem, was das Leben lebenswert macht. Eigene Antworten auf diese an sich einfachen Fragen zu finden fällt nicht leicht - vielleicht haben wir uns genau dafür auf den Weg begeben. Wir haben uns das Video mit dem Interview des unvergleichlichen Sir Peter Ustinow angeschaut, das reinste Vergnügen.

Von Stralsund nach Rostock

Von Stralsund aus wollen wir den Birgittaweg nach Tribsees laufen und dann weiter unseren "alten" Weg gehen. Etwa 3 km gehts entlang der Hauptstrassen durch Stralsunds Vorstädte, dann endlich laufen wir wieder auf naturbelassenen Pfaden Richtung Südwesten. Wieder erschöpfen uns Sonne und Hitze, wir sind froh, nach 15km im Landgasthof Krummenhagen im Schatten alter Bäume zu rasten. Seit Tagen schmerzen Evas Füße beim Laufen. Die Abstände von Rast zu Rast werden dadurch immer kürzer und das Tempo geringer. Wir gehen weiter und sehen voraus einen Gewitterguß niederprasseln. Nach nur 3km in Steinhagen nehmen wir den Bus nach Tribsees. Was eine Enttäuschung - der Ort wirkt wie ausgestorben, die einzige Gaststätte ist wegen einer Veranstaltung geschlossen, Übernachtung gibt es auch nicht. Wir versuchen von der Tankstelle aus per Anhalter weiter zu kommen. Nach einiger Zeit erbarmt sich eine Magdeburger Familie und nimmt Eva mit nach Bad Sülze. Danke! Bernd geht weiter und hat auch das Glück, mitgenommen zu werden und es wird uns auch die Übernachtung in der Ferienwohnung der Familie ermöglicht. Gastronomie gibt es auch hier nicht, aber der Einkaufsmarkt ist noch geöffnet und so können wir uns versorgen. Wir plaudern noch bis in die Nacht mit unseren freundlichen und hilfsbereiten Wirtsleuten. Am nächsten Morgen kann Eva gar nicht mehr weit laufen. Wir fahren nach Rostock, verweilen ein paar Tage in der Hoffnung auf Besserung. In Warnemünde hat sich in den letzten 10 Jahren viel verändert. Eine große Marina wurde gebaut, der "alte Strom" umgestaltet. Zum Abendessen gehen wir auf Empfehlung am Stadthafen ins Hafenrestaurant Borwin. Es war lecker und wir können den Tip hier weitergeben. Tags drauf geht es für uns vorzeitig nach Hause und nach reichlich Ruhe ist die Mittelfußentzündung auch wieder geheilt.

Fazit

Als ich von unserem Vorhaben Via Baltica erzählte, entgegnete mir ein Bekannter: "Ich laufe doch nicht zu Orten, wo ich bequem mit dem Auto hinfahren kann!". In unserer fortschrittlichen und schnellebigen Zeit hat er natürlich Recht - irgendwie. Es gibt auf der Erde Landstriche, da geht es nicht anders, da müssen auch große Entfernungen zu Fuß mit Last bewältigt werden. In unseren Breiten zu Laufen ist Freizeitbeschäftigung geworden. Man nimmt sich bewusst Zeit für den Weg und hofft auf gesundheitliches Wohlbefinden und seelisches Gleichgewicht. Wandern ist für uns eine gute Möglichkeit, sich selbst etwas Gutes anzutun, sich zu besinnen und ursprüngliche Instinke zu reaktivieren - wir gönnen uns den Luxus solange wir laufen können.